Beide Hände frei

7 Monate im Nahen Osten

Jordanien? Wonach hört sich das an? Nach Orient und Abenteuer oder doch eher nach Krisenregion? Bis zum Jänner dieses Jahres wusste ich kaum etwas über dieses Land, das meine nächste Station für ein halbes Jahr werden sollte. Eine Postkarte habe ich mir aus Wien mitgenommen, auf ihr steht ein einziger Satz: „Wer loslässt, hat beide Hände frei.“ Und ich hatte Anfang Jänner beide Hände frei, um dieses neue, spannende Land zu umarmen.

Und wieder einmal wurden mir viele Hände entgegengestreckt.

Sarah in Amman

Jordanien ist ein beeindruckenderweise sehr stabiles Königreich, inmitten einer von Kriegen, Korruption und Instabilität gebeutelten Region. Das kleine Jordanien wird umringt von Syrien im Norden, Palästina und Israel im Westen und dem Irak im Osten. Dennoch gilt es als sicheres Land, viele EuropäerInnen und AmerikanerInnen, die Arabisch lernen, kommen in die Hauptstadt Amman, um ihre Sprachkenntnisse zu verbessern. Die Non-Profit-Branche ist seit Beginn des Krieges in Syrien, durch den viele Menschen über die Grenze nach Jordanien gekommen sind, rege und aktiv. Auch hier arbeiten viele aus dem Westen. Ich selbst unterrichte an der Germanistik-Fakultät der University of Jordan.

Die kommenden 11000 Zeichen werden natürlich viel zu wenig sein, um meinen 8-monatigen Aufenthalt im Nahen Osten zu beschreiben. Es wird ein Stückwerk von Eindrücken werden, begleitet und eingerahmt von der wunderbaren arabischen Sprache.

ب wie بداية  | ba wie bidaya (Anfang)

Vom ersten Tag an wurden meine offenen Hände hier belohnt. Ich erreiche Amman von der Türkei aus am 24. Jänner 2018. Am Flughafen merke ich, dass meine österreichische SIM-Karte schwer überfordert ist und angesichts der 3.500 km Entfernung zu Wien kein Signal mehr findet. Es wird langsam Abend, ich kann kaum mehr als 5 Sätze auf Arabisch, also zeige ich meinen kleinen Notizzettel mit meiner neuen Adresse auf Arabisch herum. Im Bus zum Zentrum lerne ich einen Studenten aus dem Irak kennen, der meint, er würde ganz in der Nähe wohnen. Wir fahren gemeinsam und teilen uns für den Rest des Weges ein Taxi. Als er sich in seinem Studentenheim ins Internet einwählt und wir meine Adresse eingeben, sagt das GPS: „30 m entfernt“ Ich habe einfach so, in meinen ersten 10 Minuten in der 4-Millionen-Stadt Amman, meinen Nachbarn kennengelernt.

أ wie أهلاً و سهلاً في الأردن | alif wie Ahlan wa sahlan fi al-urdun!

Der Satz „Ahlan wa sahlan fi al-urdun“ oder „Welcome to Jordan“ ist wahrscheinlich jener, den man hier als Nicht-JordanierIn zumindest in den ersten Wochen am allermeisten hört. Der Grenzpolizist am Flughafen meint: „You are from Austria? I was in December in Vienna!“ Er zeigt mir begeistert Fotos von der Hofburg und meint mit einem breiten Lächeln: „Welcome to Jordan, Sarah!“

Essen bei syrischer Familie

Dieser Satz gilt aber nicht nur mir. Als sich in der Wandergruppe, mit der ich im Februar in den Norden fahre, ein junger Mann mit den Worten „Ich komme aus dem Süden Syriens…“ vorstellt, ruft ein ganzer Reisebus: „Ahlan wa sahlan fi Urdun!“

Dieser Satz vermittelt für mich dieses Gefühl der offenen Arme (und Herzen), mit denen mir die Menschen hier begegnen. Gleichzeitig denke ich an Europa, an Österreich. Wie oft hört man dort „Willkommen“?

ل wie لاجئ | lam wie laji (Flüchtling)

Die ganze Region steckt voller Emotionen und diese sind immer wieder spürbar. Bei einer Wanderung im Frühling endet unser Weg auf einer Anhöhe, von der aus man nach Palästina blicken kann. Die Augen eines Mitwanderers füllen sich mit Tränen. „Schau“, sagt er, „das Land meiner Vorfahren ist keine 10 Minuten entfernt, aber ich werde es nie sehen können.“

Jordanien ist keinesfalls nur ein Land mit JordanierInnen, sondern war in den vergangenen Jahrzehnten sehr oft der erste Zufluchtsort von Menschen, die gezwungen wurden, sich anderswo ein neues Leben aufzubauen. Zuerst kamen PalästinenserInnen, dann Flüchtlinge aus dem Jemen, aus dem Irak, zuletzt aus Syrien. Laut UNHCR ist Jordanien weltweit das Land mit der zweithöchsten Quote an refugees pro EinwohnerIn. Insgesamt 750.000 Menschen in Jordanien scheinen in der Statistik als geflüchtete Menschen auf. Die größte Gruppe sind SyrerInnen, über 650.000. Auch hier taucht in meinem Kopf der Vergleich mit Europa auf. Wie viele geflüchtete Menschen leben in Europa, wie viele in Österreich, wie viele in Wien?

ن wie ناس | nun wie naas (Menschen)

Ich mag die Menschen hier. Die letzten Monate waren voller interessanter Lebensgeschichten, neuer Perspektiven und bereichernder Gespräche.

Da ist Abiya, über 60, geschieden. Nach ihrer Scheidung vor 10 Jahren beschloss sie endlich zu machen, was sie selbst wollte. Also zog sie los in den Irak, um für amerikanische Soldaten in einer Militärbasis zu dolmetschen. Sie zeigt mir Fotoalben von ihrer Zeit dort, ihre Begeisterung ist bis heute spürbar.

Da ist auch Ismail, Programmierer, früher Salafist („blind“, wie er heute sagt), heute religiös, aber kritisch. Er weiß unbeschreiblich viel über Arabisch und liebt seine Sprache. Wir unterhalten uns ein ganzes Teegespräch über einen einzigen Begriff: mektub. Auf Deutsch könnte man ihn mit „Es steht geschrieben.“ oder vielleicht auch mit Schicksal übersetzen. Es ist Ismail unglaublich wichtig, mir die positive Nuance des Begriffs zu vermitteln. Mektub bedeutet nicht, passiv zu sein und bei jedem Misserfolg zu denken: „Was solls? - Schicksal!“ Mektub meint nicht, dass man sich im Leben nicht anstrengend soll. Aber mektub entlastet. Wenn ich etwas möchte und alles dafür tue, es aber trotzdem nicht bekomme, so liegt die Verantwortung nicht bei mir, so habe ich nichts falsch gemacht. Allah hat vielleicht etwas anderes mit mir vor.

Da sind Menschen wie Nabil, Nadir oder Yessin, die anpacken. Nabil hat mit Freunden vor Jahren aus dem Nichts eine Sprachschule aus dem Boden gestampft, in der ich hier einen wunderbaren Arabischkurs bekomme. Nadir kommt aus Syrien und arbeitet seit Jahren mit all seiner Energie als Volontär für eine NGO, die eine Schule für syrische Kinder im Norden Jordaniens (ganz in der Nähe des großen Flüchtlingscamps Zaatari) errichtet hat. Yessin ist Outdoor-Liebhaber und fährt jeden Freitag mit NaturliebhaberInnen wandern, irgendwo in einem schönen Fleck Jordaniens.

Wandern am King Talal-Damm

د wie دنيا | dal wie dunya (Welt)

Warum ich immer wieder meine Sachen packe und aufbreche? Warum ich nach Litauen, Frankreich und der Türkei jetzt auch noch den Nahen Osten kennenlernen muss? Um ehrlich zu sein, ich kann nicht genug kriegen von den neuen Lebensstationen und -regionen. Ich bin verliebt in die Neuanfänge, in das Loslassen und in das vorsichtige Umarmen eines unbekannten Gebietes. Und jedes Mal werden meine offenen Hände überaus reich beschenkt.

Zurück
Zurück

Und die Insekten kamen doch…

Weiter
Weiter

Glück aus Jordanien