Und die Insekten kamen doch…

Meine Erfahrungen als Stadtgärtnerin im 19.Bezirk

„Eine Baumscheibe begrünen, im 19.Bezirk? – Wo du doch eh in einer Hausgemeinschaft mit Garten wohnst?“ – Die Reaktionen auf meine Idee, in Döbling Stadtgärtnerin zu werden und mich um die Begrünung einer Baumscheibe zu kümmern, waren durchwegs überrascht bis leicht irritiert. Manche fanden die Idee „witzig“, so wirklich logisch erschien sie niemandem.

Der 19.Bezirk ist sicher nicht der urbanste, wohl auch nicht jener, wo das Projekt des Stadtgärtnerns geboren wurde. Dennoch ist es gerade in Döbling spannend, sich in den öffentlichen Raum zu wagen, dort zu pflanzen und zu werken, denn: Gerade in diesem Bezirk, irgendwo zwischen Wienerwald und Einfamilienhäusern, sind die Kontakte zwischen den Menschen auf das absolute Minimum reduziert. Man begegnet selbst den Nachbar*innen nicht besonders häufig, so weit draußen sind die allermeisten mit dem eigenen PKW unterwegs und ein Park mit Bänken zum Plaudern ist auch nicht gerade das, womit ich Neustift am Walde verbinde.

Diese Kontakte waren zusammen mit dem Verantwortungsgefühl, das „mein Baum“ in mir ausgelöst hat und dem Beobachten der kleinen Naturwunder die spannendsten Erlebnisse in diesem Jahr Stadtgärtnerin-Dasein.

Frühherbst 2020: „Mein Baum“ ist schnell gefunden, eine junge, etwas armselige Linde in Neustift am Walde. Ich staune – „er“ hat sogar eine Nummer, lerne ich aus dem „Baumkataster der Stadt Wien“. Die Baumscheibe rund um diese kleine Linde ist, höflich ausgedrückt, nicht besonders einladend. Außer einer traurigen wilden Brombeerranke, Steinen und Erde ist da einfach – nichts. Das soll sich in den nächsten Wochen und Monaten ändern.

Spätherbst 2020: Ich grabe die Erde noch einmal um, säe – obwohl es wohl viel zu spät ist – Gründüngung an. Hoffe darauf, dass sich der Boden damit irgendwie aufbessern lässt und tatsächlich auch die Blumenzwiebel, die ich einige Wochen später einsetze, im Frühjahr zu Tulpen, Narzissen und Zierlauch werden.
Ein alter Herr bleibt stehen, sieht mir eine Zeitlang zu. Wir lächeln einander kurz an, dann leuchten seine Augen und er fragt mich ganz entzückt: „Wird das eine Blumenwiese?“ Am Heimweg bin ich ganz beschwingt, alleine schon wegen dieser ersten Begegnung.

Winter 2020: Momentan gibt es nicht viel zu tun. Kontaktlos habe ich Tannenreisig vom Blumengeschäft ums Eck gekauft, die Baumscheibe damit abgedeckt, ein Schild gemalt, mit dem schönen Wiener Klassiker „Hier schlafen Blumenzwiebeln“ und mit einer Erklärung, wer ich bin und was ich hier tue. Das Stadtgärtnern-Schild steht schon seit längerer Zeit neben der Linde, bunt und ordnungsgemäß laminiert. Aber bereits jetzt ist da ein neues Gefühl, nämlich das Gefühl, dass ich verantwortlich bin für dieses kleine Fleckchen in Wien. Und tatsächlich, ich fühle mich dem Bezirk und der Stadt ein Stück weit verbundener, denn nun bin ich eine von denen, die sich „um die Stadt“ kümmert. Auch wenn es nur ein wenige Quadratmeter großer Fleck rund um eine Baumscheibe in Döbling ist.

Frühling 2021: Der Winter ist überstanden, mein Mann und ich warten gespannt darauf, dass sich an der Baumscheibe etwas tut. Und – siehe da, die ersten grünen Spitzen bahnen sich ihren Weg aus dem Dunkel der Erde an die Oberfläche! Es hat funktioniert!
Ab jetzt gibt es dauernd etwas zu tun: Wir entfernen Steine, lockern die Erde auf, graben eine „Rasenumrandung“ rund um die Baumscheibe ein – wir haben doch ein bisschen Sorge, dass man die klitzekleinen Blumenspitzen übersehen und darauf treten könnte.

Die allermeisten meiner Freund*innen wissen nun, welches „mein Baum“ ist. Diejenigen, die in der Nähe wohnen, geben immer mal wieder Bescheid, dass sie vorbeigegangen sind und „eh alles in Ordnung ist“.
Wie lautete nochmals die Weisheit aus dem Buch Der kleine Prinz? – In eigenen Worten: „Wenn du mich zähmst, werde ich für dich einzigartig sein.“ und „Du bist zeitlebens für das verantwortlich, was du dir zu eigen gemacht hast.“ Ja, so fühlt es sich tatsächlich an, ich fühle mich verantwortlich, ich kümmere mich, fast so, als hätte ich ein kleines Stück Wien „gezähmt“.

Frühsommer 2021: Eine Großaktion beim Baum – wir schleppen mit dem Bus mehrere Säcke Blumenerde an, ich hole nochmals säckeweise Steine aus der Erde, wir graben um und bereiten den neuen Blumensamen einen noch besseren Boden. Mein Mann sät Ringelblumen feinsäuberlich rund um die Linde, Samen für Samen, in Kreisen und mit System. Immer wieder bleiben Menschen stehen, beobachten unser Tun, sprechen uns an, wundern sich, freuen sich, kleine Dialoge entstehen.

Ein paar Wochen danach kommen noch mehrere Säckchen „Insekten- und Bienenwiese“ dazu, damit es etwas bunter und vielfältiger auf der Baumscheibe wird. Während des Gartelns an der Baumscheibe fällt uns immer stärker auf, dass unglaublich viel Verkehr vorbeibraust auf der Krottenbachstraße, vor allem nach Feierabend. Alle wollen raus aus der Stadt. Mein Mann meint mit Blick auf meine bienenfreundlichen Pflanzambitionen: „Das ist zwar nett – aber hierher kommen die Insekten sicher nicht. Wo es doch so laut und voller Autoabgase ist.“ Ich hoffe auf das Gegenteil, bin mir aber ehrlich gesagt selbst nicht ganz sicher.

4.Juli 2021: Meine Hoffnung war nicht umsonst! Ich schreibe begeistert in die Signal-Gruppe meine Freundinnen: „Die erste Ringelblume blüht und ein Marienkäfer wohnt beim Baum! Made my day!“

Der Satz „Ich geh‘ zum Baum.“ wird zu einem geflügelten Wort in unserem Haus. Das Gießen ist an heißen Tagen nicht wenig Arbeit. Ich ernte immer wieder verwunderte Blicke von Passant*innen bei meinem abendlichen Weg zum Baum: Ein Mensch mit zwei Gießkannen links und rechts in den erdigen Händen - und das mitten in der Stadt?

Sommer 2021: Und die Insekten – sie kamen doch! Eben weil der Ort plötzlich spannend war, eben weil da auf einmal Pflanzen waren, eben weil gegossen wurde und sich Menschen um diesen Fleck Erde kümmerten. An manchen Tagen wuselte es so richtig – der besagte Marienkäfer lebte lange Zeit auf einer Ringelblume, zahlreiche Wespen kamen vorbei, Käfer krabbelten zwischen den Blumenstängeln hindurch und hin und wieder kam sogar ein Schmetterling zu Besuch. Sie ließen sich nieder und waren durch die vorbeifahrenden Autos kaum zu stören.

Das war eines der größten Wunder, wenn ich auf dieses Jahr Stadtgärtnern zurückblicke – dass an so einem scheinbar verkümmerten, fast leblosen Ort mit etwas Arbeit und Ideen innerhalb weniger Monate wieder Leben sein kann. Dass Insekten kommen, dass Menschen stehenbleiben, schauen und sich (manchmal auch etwas verwundert) freuen.

In diesem Sinne – meine wärmste Empfehlung für das Projekt der Baumscheibenbegrünung! Es macht wirklich Freude, die Arbeit zahlt sich aus - und man lernt den eigenen Bezirk, die Menschen und vor allem ein kleines Stück Natur in der Stadt noch besser kennen.

Dieser Text “Und die Insekten kamen doch…” wurde bei der Gebietsbetreuung Stadterneuerung im Blog “Meine Baumscheibe und ich” erstveröffentlicht, zur Nachlese geht es hier. Danke für diese Möglichkeit! Weitere Informationen zum Projekt des Stadtgartelns (Begrünung von Baumscheiben) gibt es auch dort.

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Von argentinischen Nomaden und anderen Begegnungen

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